Die Kleine Schildkröte                             von Ruth Althaus                                                                     zurück zum Geschichtenplatz

Du weisst, liebe Katja, das ist wirklich eine sehr traurige Geschichte, und ich muss einen Grund gehabt haben, Dir ausgerechnet diese Geschichte zu erzählen. Du bist zwar schon mehr als zwölf Jahre alt, aber als die Geschichte begann, hattest Du Dich ins Alter von etwa sechs Jahren zurückgezogen, weisst Du noch, da war Dein Geburtstag mit den 6 Kerzen auf dem Kuchen, und es war die Zeit des Kindergartens.  

 

Die Kleine Schildkröte                                                                      

 

An einem Sommertag schlüpfte die kleine Schildkröte aus dem Ei

Sie war nicht allein

Die Sonne schien

Das kleine Schildkrötchen stand da, blinzelte - und streckte sich

 

Dann sah es den Feigenbaum

Es kroch zu ihm und beschloss dort zu bleiben

Beim Feigenbaum wohnte eine kleine Eidechse

Die beiden schauten sich lange an - verstanden sich - und wohnten zusammen unter dem Feigenbaum

 

Die kleine Schildkröte war langsam - die Eidechse war flink

Die kleine Eidechse konnte klettern - die Schildkröte nicht

Wenn sie am Feigenbaum hoch krabbelte, fiel sie auf den Rücken

Und die kleine Eidechse musste lange warten

 

Manchmal wünschte sich die kleine Schildkröte

Sie hätte Flügel

Oder

Lange Beine

Oder

Wenigstens Flossen wie die Fische im Meer

Und

Weil sie nur vier kurze Beine hatte

Und noch sehr klein war

Träumte sie davon

Bald gross zu werden

 

Sie wurde gross

Nicht ganz so gross

Wie grosse Schildkröten sind

Aber gross genug

Um die Welt anschauen zu können

 

Die kleine Schildkröte verliess den Feigenbaum und die kleine Eidechse

und machte sich auf den Weg

 

Kein Schildkrötenvater reckte den Hals zum Abschied

Keine Schildkrötenmutter weinte eine Schildkrötenträne

 

Kleine Schildkröten haben keine Eltern

 

Die kleine Schildkröte ging

und ging

Bis ein Knabe kam

Die kleine Schildkröte packte

Und sie behielt

Eine Riesenschildkröte mit Rädern

Nahm die kleine Schildkröte mit

Und brachte sie in ein anderes Land

Wo die Sonne anders scheint

Wo keine Feigenbäume wachsen

Und die Schildkröten gefangen sind

Dort sah sie einen Apfelbaum

Darunter war eine grosse Schildkröte

Sie schlief

Die kleine Schildkröte freute sich

Ging zu der grossen Schildkröte

Und blieb bei ihr

 

Nun hast Du Dich gefragt, was mit den traurigsten aller Sätze wohl gemeint war. Haben Schildkröten wirklich keine Eltern?

Einerseits kann dieser Satz nicht stimmen. Jede Schildkröte hat  einen Vater und eine Mutter. So, wie auch jedes Kind einen Vater und eine Mutter hat.

Andererseits stimmt der Satz schon. Die kleine Schildkröte hat nie eine Mutter gesehen, und schon gar nicht einen Vater.  Sie schlüpfte aus dem Ei, und niemand war da, der sich um sie kümmerte. Also hat die kleine Schildkröte, aus ihrer Sicht, keine Eltern.

Du, liebe Katja, kennst Deinen Vater und Deine Mutter, aber glücklich bist Du damit nicht. Dein Vater ist so sehr in seine Probleme mir dem Alkohol verstrickt, dass er sich nicht um Dich kümmern kann; im Gegenteil, er schlägt Deine Mutter, und Du musst Dich vor ihm in Acht nehmen. Vielleicht ist es gut, darüber nachzudenken.  Manchmal denkst Du, es wäre besser, gar keinen Vater zu haben als so einen.

Damit bist Du nicht allein. Viele Väter und viele Mütter entsprechen nicht dem Bild  des idealen Vaters oder der idealen Mutter, das wir in uns haben. Es ist gut, zu wissen, dass Du nicht ein Teil Deines Vaters bist, oder ein Teil Deiner Mutter. Du bist neu und ganz einzigartig, und Du wirst so sein, wie Du werden willst.

Es könnte gut tun, sich genauer vorzustellen, wie denn Dein idealer Vater und Deine ideale Mutter aussehen würden - was für einen Beruf sie hätten, was sie sagen würden und was ihnen wichtig wäre - vor allem, wie sie mit Dir umgehen würden - ja, das ist so, in Deinem Kopf, wo alles wichtige stattfindet, ist es erlaubt, zwei Väter zu haben, und zwei Mütter, und Du tust gut daran, Dich für Deinen Weg in eine bessere Zukunft an Idealen zu orientieren.