Der Tränensee,                 aus:                  Katja reitet wieder,                        von Frank Fischer                    zurück zum Geschichtenplatz

       

Tagträumen

 

Liebe Katja, hier findest Du Dich ja in Deiner eigenen Geschichte wieder, die von Frank Fischer niedergeschrieben wurde. Mir hat besonders gefallen, wie Du, im Kapitel Tränensee, in Dein blaues Tuch versinkst und dort Kraft holst, wo es Dir gut geht. Hier ein Ausschnitt:

 

 

Endlose Lichterschlangen zogen da zwischen den Häuserschluchten hindurch. Die Turmuhr schlug halb zehn.

Katja lag bereits im Bett, als ihre Mutter zum «Gute Nacht»-Sagen vorbei kam. Sie setzte sich an den Bettrand und hörte zu, während Katja erzählte, was sie in der Handarbeitsstunde gemacht hatte.

«Ist das die Muschel aus den Ferien?», fragte ihre Mutter plötzlich und nahm sie vorsichtig in die Hand. «Und das Meer? Ist es noch drin?» Sie hielt die Muschel ans Ohr. Katja nickte. Jana (die Mutter) legte die sandfarbene Muschel sorgsam zurück. «Schöne Tage waren das damals», sagte sie leise.

«Steckt nicht immer die Köpfe zusammen.» Der Vater knurrte unwillig von seiner Couch aus, auf der er eingedöst und gerade wieder wach geworden war. Die Mutter streichelte Katja noch schnell über das Haar und ging aus dem Zimmer.

Katja schlüpfte unter die Bettdecke. Das Gezanke der Eltern drang trotzdem durch Türe und Kissen hindurch. Janas Bemerkung hatte den Vater auf die Palme gebracht. Katja wusste genau, wie es weiter gehen würde. Papa würde Mama schlagen, wie schon so oft, wenn er betrunken war. Und sie würde noch mehr schimpfen, sich im Bad einsperren und weinen, während Papa draussen an der Türe rüttelte.

Manchmal klopften auch Nachbarn gegen die Wand, wenn es besonders laut war. Einmal hatte einer vor der Tür etwas von Polizei gerufen. Aber passiert war trotzdem nichts. Niemand half.

Katja zog die Decke fest um sich. Sie wollte von allem nichts mehr wissen, hatte genug. Sie fröstelte. In ihrem Bauch war ein grosser Klumpen. Weinen konnte sie nicht.

 Sie vergrub sich in ihrem blauen Kuscheltuch, schloss die Augen und stellte sich vor, wie sie langsam in dem blauen Tuch versank, wie in einem Meer. Das Wasser war angenehm warm, so wie damals in den Ferien. Katja liess sich einfach absinken, tiefer und tiefer, bis sie den Sand des Meeresbodens berührte und in ihm liegen blieb, zwischen Seesternen und Korallen. Es war ganz still, nur die leichten Bewegungen des Seegrases am Boden. Grosse, bunte Fische schwammen über ihr. Ein Schwarm silbriger Fischchen zog blinkend vorbei. Licht und Farben taten Katja gut. Mit der Zeit bekam sie Lust, selber zu schwimmen. Sie stiess sich vom dunklen Grund ab und schwamm nach oben zum Licht hin. Heller und heller wurde es, bis sie schliesslich aus dem Wasser ins grelle Tageslicht auftauchte, am Strand einer unbekannten, aber ihr doch vertrauten Küste landete. Katja watete ans Ufer. Anders als damals in den Ferien war hier alles voll feinem, weissem Sand. Katja liess sich hineinfallen wie in ein weiches Bett. Sie schloss die Augen. Es tat gut, einfach daliegen zu können und sich von der Sonne bescheinen zu lassen. Hinter den Dünen erhob sich eine bewaldete Anhöhe, in der der Wind rauschte. Sonst war es still.

Plötzlich hörte Katja ein vertrautes Wiehern. Sie schaute suchend um sich. Das konnte doch nicht wahr sein? Katja mochte ihren Augen kaum trauen. Ramona (ihr Lieblingspferd) trabte dort auf sie zu und warf fröhlich wiehernd ihren Kopf bin und her. Katja stand auf und lief ihr entgegen. Sie umarmte die braune Stute und barg ihren Kopf an Ramonas Hals.

«Bist du es wirklich?», fragte sie. Ramona nickte. «Schön, dich wenigstens hier zu sehn», sagte Katja, «eigentlich darf ich ja nicht mehr mit dir reiten. » «Ich weiss, sagte Ramona.

«Dabei hab ich Mama noch mal gefragt, aber ich darf einfach nicht. Es ist gemein. » Ramona nickte.

Sie gingen das Ufer entlang. Die Wellen umspülten Katjas Füsse. Kein Mensch weit und breit, nur endloses Meer, weisser Strand und zum Land hin Dünen, Wiesen und Wälder.

«Schön ist es hier», sagte Katja. «Aber wo sind wir eigentlich?» «Das ist alles dein Land», antwortete Ramona. «Mein Land?», staunte Katja.

«Ja. Wir können uns hier treffen, so oft du willst. Niemand kann dir hier etwas wegnehmen. Alles ist deine Welt.» Katja verstand zwar nicht ganz, aber es war ihr eigentlich auch egal. Sie musste nicht alles verstehen.

«Können wir ein bisschen herumreiten?», schlug sie von Ramona war einverstanden und liess Katja aufsteigen. Sie ritten am weissen Strand entlang. Die Wellen kamen und gingen, manchmal spritzte das salzige Wasser bis zu Katja hoch. Ihre Spuren im Sand verstrichen mit jeder Welle. Nach einer Weile bogen ins Landesinnere ab. Sie durchquerten Wälder und Wiesen. Bienen und Hummeln summten, Schmetterlinge tanzten zwischen den Gräsern. Vögel flogen mit ihnen um die Wette.
«
Ich möchte dir etwas zeigen», sagte Ramona. «Einverstanden. » Katja war gespannt.
Während sie weiter ins Innere des Landes ritten, veränderte sich die Landschaft. Der Boden wurde härter, die bunten Blumen verschwanden, graue scharfkantige Steine lagen verstreut.
«Wohin reiten wir?», wollte Katja jetzt doch wissen. Die Landschaft wurde ihr fast etwas unheimlich. Überall standen verkrümmte Trauerweiden, mit langen dünnen Ästen, die bis zum Boden herabhingen.
«Zum Tränensee», antwortete Ramona. «Was ist denn das?» «Ein grosser See, mit vielen ungeweinten Menschentränen.»
Auch darunter konnte sich Katja nichts vorstellen. Katja erkannte den See erst, als Ramona direkt davor stehen blieb.
«Da ist ja kaum Wasser drin», wunderte sich Katja. Dicker Schlamm füllte den See aus. Zum Ufer hin wurde der Schlamm hart und brüchig, wie trockener, von Dürre aufgerissener Boden. Nur in der Mitte des Sees gab es noch Wasser.
«Warum ist der See so geworden, Ramona?»
«Ungeweinte Tränen werden mit der Zeit hart>, antwortete sie. Katja stieg ab und betrachtete das Seeufer aus der Nähe. Alles war voll weissem Salz. Vorsichtig betrat sie das harte, verkrustete Wasser. Die Schollen knirschten unter jedem Tritt. Als Katja mit dem Fuss leicht einbrach, wurde es ihr zu gefährlich. Sie kehrte zu Ramona zurück.
«Ziemlich trostloser Anblick», stellte Katja fest. Auch Ramona nickte ernst. «Was können wir da machen?»
«Das Wasser müsste wieder ins Fliessen kommen», überlegte Ramona.
Die beiden ritten langsam das Seeufer ab und dachten angestrengt nach. Und da hatte Katja eine Idee.
«Ramona», sagte sie, «in der Schule haben wir gelernt, dass jeder See einen Zufluss und einen Abfluss hat. Wo aber ist hier der Abfluss?»
«Du hast Recht>, stutzte Ramona, «es müsste auch hier einen Abfluss geben. Vielleicht ist er verstopft. » Sie ritten noch einmal das Seeufer entlang und hielten nach einem Abfluss Ausschau. Um den See war es ganz still, fast wie tot. Selbst die Bäume bewegten sich nicht. Nur die abgefallenen welken Blätter der Trauerweiden trieben auf der Seemitte, alle in die gleiche Richtung. Am Rand der Tränenkrusten stauten sie sich.
«Dort muss der Abfluss sein!», rief Katja plötzlich laut. «Natürlich. Sonst würden die Blätter ja nicht dorthin treiben.» Ramona und Katja 1tten in die angegebene Richtung. Sie suchten das Ufer dort Schritt für Schritt ab, bis sie unter dem trockenen Wasserschlamm wirklich eine Art kleinen Kanal entdeckten. Er war völlig verstopft. Abgebrochene Äste hatten sich verhängt, zerbrochene Scherben lagen dazwischen und alles war mit harten Tränen verschlammt.
«Kein Wunder, dass hier kaum noch was durchgeht>, schüttelte Katja den Kopf «Wir müssen den Abfluss wieder freilegen», sagte sie bestimmt. Während Ramona mit ihren Hufen vom Ufer her die Schlammplatten losschlug, warf Katja die Brocken wieder in den See zurück. Mit der Zeit gelang es ihnen, den Durchgang so zu erweitern, dass mehr und mehr Wasser abfliessen konnte. Langsam bahnten sie den Tränen aus dem See einen Weg. Erst floss nur wenig, schliesslich strömte es kräftig durch die Rinne am Boden.
«Sogar der harte Schlamm löst sich auf>, staunte Ramona.
Auch die Farbe des Wassers änderte sich. Die schmutzig-grauen Krusten verwandelten sich langsam in klares, blaues Wasser.
Vor lauter Arbeit hatte Katja nicht gemerkt, wie müde sie geworden war.
«Wo kann ich mich hinlegen?», fragte sie Ramona. Sie gingen zu einer besonders grossen Trauerweide. Unter ihren Zweigen war frisches Gras aus dem Boden gebrochen, Blüten schoben sich aus den Stängeln und öffneten sich. Katja kuschelte sich an Ramonas warmen Bauch. Die Trauerweide senkte schützend ihre Äste über Katja. Bald war sie eingeschlafen.